Demenzkranke verlieren nicht automatisch das Wahlrecht
Ältere Menschen sind bei Wahlen von entscheidender Bedeutung. Bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr stellten die Über-60jährigen etwa ein Drittel aller Wahlberechtigten. Auch wenn sie zum Pflegefall werden oder an Demenz leiden, dürfen ältere Menschen abstimmen. Theoretisch. Im Alltag bleibt davon oft nicht viel übrig.
Es ist eine Grauzone im System. 62 Millionen Wahlberechtigte können Ende Mai ihre Stimme bei der Europawahl abgeben. Etwa jeder 60. von ihnen leidet an einer Demenzerkrankung wie Morbus Alzheimer. Ein Anteil, der wächst. Weil die Menschen immer älter werden, rechnen Mediziner damit, dass sich Leiden wie Alzheimer zur Volkskrankheit auswachsen. Eine Krankheit, die jeden treffen kann. „Ich appelliere an alle, sich so früh wie möglich um eine Vorsorgevollmacht zu kümmern“, sagt Sylvia Kern, Geschäftsführerin der Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg. Denn nur mit einer solchen Vorsorgevollmacht sichern sich demente Menschen ihr Wahlrecht. So steht es im deutschen Wahlrecht – verbunden mit Widersprüchen. Nehmen wir eine alte Frau, die rechtzeitig vor ihrer schweren Demenz eine Vorsorgevollmacht für eine Person ihres Vertrauens erstellt hat. Diese alte Frau bleibt wahlberechtigt. Nehmen wir einen alten Mann, ebenfalls an schwerer Demenz erkrankt. Er hat es versäumt, eine Vorsorgevollmacht auszustellen. Dieser Mann kann vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Denn laut Gesetz verliert derjenige das Wahlrecht, „für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist“.
Wer entscheidet also, ob Demenzkranke wählen dürfen? Und wie lässt sich ein Missbrauch ihrer Wahlunterlagen verhindern? Mit diesen und anderen heiklen Fragen müssen sich Angehörige, Pfleger und Betreuer immer wieder auseinandersetzen. „Einer Wahlmanipulation ist hier Tür und Tor geöffnet“, sagt Sylvia Kern von der Alzheimer Gesellschaft. „Das Pflegepersonal hat diese Problematik immer im Blick“, betont hingegen Eva-Maria Bolay, Pressesprecherin beim Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Der Verband betreibt 22 Alten- und Pflegeheime mit etwa 2000 Pflegeplätzen. Die Gefahr der Wahlmanipulation sei unter dem Dach einer Pflegeeinrichtung am geringsten, so Bolay. Eine Einschätzung, die Klaus Ziegler teilt. Zusammen mit seiner Frau Rosemarie Amos-Ziegler leitet er die Wohngemeinschaft für Senioren in Filderstadt bei Stuttgart. 134 ältere Menschen stehen unter ihrer Verantwortung, 65 leben alleine und lassen sich vom ambulanten Pflegedienst versorgen. Viele der Pflegebedürftigen würden überhaupt nicht mehr wählen, sagt Klaus Ziegler. Sie hätten das Interesse an Politik verloren. Trotzdem erhielten sie jede Menge Infos über das tägliche politische Geschehen, ergänzt Rosemarie Amos-Ziegler: „In unseren regelmäßigen Treffen lesen die Betreuer aus der Zeitung vor, und es wird viel diskutiert.“ Sie hat beobachtet: Wer als junger Mensch politisch interessiert und engagiert gewesen sei, der wähle auch noch im hohen Alter.
Dass die Wahlunterlagen von dementen Menschen regelmäßig manipuliert werden – dafür gibt es keine Beweise. Fest steht, dass der Bundesverband der Berufsbetreuer seit langem eine Debatte zum Thema Demenz und Wahlen fordert. Denn die Zahl der Demenzkranken könnte bis zum Jahr 2050 auf vier Millionen steigen. Das entspräche einem Anteil von fünf Prozent der Wahlberechtigten. Theoretisch könnten die Demenzkranken dann eine eigene Partei in den Bundestag wählen.
Autor: Hilmar Pfister